Konkrete Suizidpläne,
dauerndes Denken an Suizid, halluzinierte zum Suizid auffordernde Stimmen
und vorherige Suizidversuche sind keine verlässlichen Kriterien, um
beurteilen zu können, wie stark ein Mensch zur Selbsttötung neigt.
Dennoch sind diese Aspekte zumindest in den USA häufig
Entscheidungsgrundlage dafür, ob ein Patient stationär aufgenommen
werden sollte oder nicht. Weitaus eindeutigere Hinweise auf einen
drohenden Suizid liefern massive Angst und Panikattacken, Depressionen,
frischer Verlust einer wichtigen Bezugsperson, Alkohol- oder
Drogenmissbrauch, Gefühle von Hoffnungs-, Hilf- und Wertlosigkeit,
Schlafstörungen, Unfähigkeit zur Freude, eine chronisch und
kontinuierlich sich verschlimmernde Erkrankung, die Unfähigkeit,
beruflichen oder schulischen Verpflichtungen gerecht zu werden, bisher
unbekanntes plötzlich impulsives Verhalten und die frische Diagnose einer
lebensbedrohlichen Erkrankung.
Das zuletzt genannte
Risiko-Profil zeichnen R. C. W. Hall und Kollegen auf Grund einer Studie
an 100 Patienten, die wegen eines lebensbedrohlichen Suizidversuchs in der
Notfallambulanz eines großen städtischen Krankenhauses untersucht worden
waren. Von ihnen hatten 83 Prozent innerhalb eines Monats vor dem
Suizidversuch Kontakt zu einem Anbieter von Gesundheitsleistungen. In
dieser Untergruppe gaben zwei Drittel an, weder auf ihren emotionalen
Zustand noch auf Selbsttötungsabsichten angesprochen worden zu sein.
Entsprechend viele Patienten waren daher auch mit der Betreuung
unzufrieden.
Aber hätten „klassische“
Nachfragen den späteren Suizidversuch wirklich verhindern können? Nach
Ansicht von Hall und Mitarbeitern ist dies bei ihrem Patienten-Kollektiv
eher unwahrscheinlich. Denn amerikanische Versicherungen („Managed Care“)
schreiben vor, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit einer ihrer
Versicherten unter Kostenübernahme stationär aufgenommen werden kann.
Dabei stützen sie sich auf die eingangs zuerst genannten Prüfaspekte.
Wie wenig hilfreich diese Kriterien sind, zeigt die vorliegende Studie. In
ihr gaben fast 90 Prozent der Befragten an, in der Woche vor dem
Suizidversuch nicht erregt bzw. nie in ihrem Leben handgreiflich gewesen
zu sein. Rund 70 Prozent hatten vorher keine oder allenfalls flüchtige
Suizidgedanken (also keine konkreten Pläne). Die amerikanischen
Psychiater fordern deshalb ihre ärztlichen Kollegen auf, sich nicht auf
Versicherungsrichtlinien, sondern auf die eigene medizinische Kompetenz zu
verlassen und relevantere Risikoindikatoren zu beachten (s. Kasten).
Suizidindikatoren:
Je mehr Kriterien erfüllt sind, um so höher ist das Risiko
(Reihenfolge nach Häufigkeit des Vorkommens)
Ø
massive Angst und Panikattacken
Ø
Depressionen
Ø
frischer Verlust einer wichtigen Bezugsperson
Ø
Alkohol- oder Drogenmißbrauch
Ø
Gefühle von Hoffnungs-, Hilf- und Wertlosigkeit
Ø
Schlafstörungen
Ø
Unfähigkeit zur Freude
Ø
chronisch und kontinuierlich sich verschlimmernde Erkrankung
Ø
Unfähigkeit, beruflichen oder schulischen Verpflichtungen
gerecht zu werden
Ø
bisher unbekanntes plötzlich impulsives Verhalten
Ø
frische Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung
Stationen
„suizidsicher“ machen
Auf praktische Aspekte
der Suizidprävention verweist eine in Großbritannien durchgeführte
Studie von L. Appleby und Kollegen, die 10.040 Suizide analysierte. In
2.370 Fällen hatten die Betroffenen innerhalb eines Jahres vor ihrem Tod
Kontakt mit einem Dienst, der sich mit seelischer Gesundheit befasst. Für
diese Untergruppe psychisch Kranker mit letztlich 2.177 auswertbaren
Schicksalen stellte sich heraus, dass stationär erfolgende Suizide sich häufig
in der ersten Woche nach Aufnahme auf einer psychiatrischen Station (23
Prozent) und während der Planung der Krankenhausentlassung (40 Prozent)
ereignen. Erhängen war die häufigste Todesursache (40 Prozent). 21
Prozent töteten sich trotz speziell angeordneter Beaufsichtungsmaßnahmen,
18 Prozent trotz häufiger Kontrollen in Abständen von 5 bis 30 Minuten.
25 Prozent nahmen sich das Leben auf einer nur schlecht zu überblickenden
Station. Rund ein Viertel aller Suizide ereignete sich innerhalb von 3
Monaten nach stationärer Entlassung mit einem Gipfel in der ersten Woche
und dem höchsten Wert am ersten Tag. Vor diesem Hintergrund empfehlen die
Autoren,
Ø
den Kontakt zu den Kranken in besonders kritischen Zeiten zu
intensivieren,
Ø
gefährdete Patienten nicht auf unübersichtlichen Stationen
unterzubringen,
Ø
die Beaufsichtigungsmöglichkeiten zu verbessern (etwa durch mehr
Personal) und
Ø
die Möglichkeiten des Erhängens zu verringern (zum Beispiel kein
Einbau stabiler Vorhangschienen).
Altersdepression:
Suizid trotz Heilung?
Wie R. C. W. Hall und
Kollegen auf Grund einer Studie resümieren, suizidieren sich alte
Menschen mitunter selbst dann, wenn sich ihre Depression deutlich bessert.
Dies kann daran liegen, dass andere gavierende Stressoren weiterbestehen
(wie zum Beispiel schwere Behinderungen, chronische Schmerzen oder massive
Beziehungsproblemen). Es ist daher wichtig, bei diesem Personenkreis auch
nach Heilung einer Depression weiterhin regelmäßig auf suizidale
Tendenzen und Gefühle zu achten.
R.
C. W. Hall u.a.: Suicide risk assessment: a review of risk factors for
suicide in 100 patients who made severe suicide attempts. Psychosomatics
1999 (40) 18-27; L. Appleby u.a.: Suicide within 12 months of contact with
mental health services: national clinical survey. Brit. med. J. 1999 (318)
1235-1239; M. Waern u.a.: Suicidal feelings in the last year of life in
elderly people who commit suicide. Lancet 1999 (354) 917-918
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