von Dr. Dr. med. Herbert Mück,
Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Köln
Möglicherweise sind leichtere
depressive Symptome mitunter genau so gesund und lebenserhaltend, wie es
(„natürliche“) Angst sein kann. Erst ihre Über- oder Dauerdosis
macht „krank“. Diese eher unübliche Betrachtungsweise entfalten
unabhängig voneinander S. B. Patten in der Zeitschrift Medical
Hypothesis und R. Nesse in der Zeitschrift Archives of General
Psychiatry.
Patten unterscheidet zwischen
„depressiven Symptomen“ und „depressiven Störungen“. Erst wenn
depressive Symptome einen bestimmten Schweregrad erreichen und eine
definierte Mindestzeit anhalten (siehe ICD 10 oder DSM IV), werden sie
zu einer Störung von Krankheitswert. Unterhalb dieser Grenze lassen
sich depressive Symptome dagegen als nützliche Signale oder Ausdruck
beginnender Anpassung interpretieren. Sie teilen dem Betroffenen bzw.
seiner Umwelt mit, dass der „Bedrückte“ unter Druck steht, weil er
und seine Umwelt in bestimmten Punkten nicht mehr harmonieren. Solche
„stressigen“ Diskrepanzen sind in der heutigen Zeit mit ihren
rasanten gesellschaftlichen Veränderungen fasst schon „normal“.
Passen sich der Betroffene oder die Umwelt erneut wechselseitig an und
funktioniert das Zusammenspiel zwischen den Beteiligten wieder, lösen
sich die depressiven Symptome häufig auf.
Depressive Symptome signalisieren möglicherweise
nicht nur die Notwendigkeit einer Veränderung, darüber hinaus scheinen
sie auch erforderlicher Teil eines Anpassungsprozesses zu sein. So wirkt
ihr Fehlen mitunter krankhaft, etwa wenn jemand nach dem Tod einer
wichtigen Bezugsperson keinerlei depressive Symptome („Trauer“)
entwickelt. Sogenannte Abwehrmechanismen (Verleugnung, Rationalisierung,
Affektabspaltung) verzögern oder verhindern dann die erforderliche
Anpassung.
Gesunde
Effekte von Depressionen
Einige typische depressive Symptome
(Antriebshemmung, Verlangsamung, Interessenverlust,
Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen) lassen sich auch als
sinnvolle psychosoziale „Bremse“ interpretieren. Letztere erspart es
dem Betroffenen, weiterhin „ungehemmt“ Verhaltensweisen und
Denkmuster zu praktizieren, die nicht mehr zur aktuellen Lebenssituation
passen. Sie ziehen den „Depressiven“ gleichsam aus dem (sozialen)
Verkehr, wo ihm mit seiner bisherigen Fahrweise ständige Unfälle
drohen. In einer völlig überfordernden Umwelt oder angesichts
aussichtsloser Ziele versetzen sie den Betreffenden in eine Art
„Winterschlaf“, wobei das damit verbundene Bild von Hilflosigkeit
bei anderen Helferinstinkte ansprechen kann. Je mehr Erwartungen und
Leistungsvermögen auseinander klaffen, um so mehr sinkt die Stimmung
bzw. stellen sich depressive Symptome ein. Depressionen sind nach dieser
Betrachtungsweise also keine „Defekte“, sondern gesunde
Abwehrmechanismen. Sie verhindern, dass weitere Anstrengung
(Konkurrieren, Kämpfen) die Situation nur noch mehr verschlechtert und
erleichtern so den Ausstieg aus erschöpfenden Endlosschleifen. Diesbezüglich
ähneln sie körperlichen Symptomen wie Husten, Erbrechen, Durchfall,
Schmerz oder Fieber. Letztere haben in aller Regel eine sinnvolle
Aufgabe. Deshalb gilt möglicherweise auch für „subklinische
Depressionen“: Während man Defekte „beheben“ sollte, kann es schädlich
sein, normale körperliche Abwehrfunktionen zu unterbinden.
Depressive Pausen nutzen
Misslingt es dem Betroffenen in der durch
die Depression (biologisch?) angeordneten Pause, die erforderlichen
Anpassungen bzw. Veränderungen in seinem Denken, Fühlen oder Verhalten
vorzunehmen, droht eine „depressive Störung“ als Dauerzustand. Ein
solcher Prozess erinnert an die Chronifizierung von Schmerzen, wo
ebenfalls ein biologisch ursprünglich sinnvolles Geschehen (akuter
Schmerz als Warnsignal) irgendwann seine ursprüngliche Funktion
verliert, sich verselbstständigt und selbst zu einem Problem wird. Möglicherweise
verlaufen weitaus mehr körperliche Prozesse nach diesem Muster, als uns
bislang bewusst ist (z.B. Formen der dilatativen Kardiomyopathie, bei
denen die Herzerweiterung auch nur bis zu einer bestimmten Grenze eine
sinnvolle Anpassung darstellt).
Leider reicht Pausieren allein oft nicht
aus, um Depressionen abklingen zu lassen. Auch lassen sich nicht bei
allen Depressionen „Anpassungsprobleme“ eindeutig identifizieren.
Fazit für die Praxis: Mit
dem Begriff „subklinische Depression“ sollte zurückhaltend
umgegangen werden, da er einen möglicherweise gesunden Prozess
potentiell pathologisiert. Depressive Symptome können dem Behandler
signalisieren, dass der Betroffene mit schwierigen Veränderungen
befasst ist und dass er dafür eine vorübergehende (Anpassungs)Pause
benötigt. Unterstützung bieten „Anpassungshilfen“, die den „Bedrückten“
entlasten und es ihm erleichtern, eine neue Balance mit seiner Umwelt
herzustellen. Haben sich depressive Symptome jedoch einmal als „Störung“
verselbstständigt, fehlt ihnen jeglicher Sinn. Um ein solches Problem
zu lösen, das sich oft selbst am Leben erhält, bedarf es besonderer
Strategien. Zu ihnen können Antidepressiva gehören, die möglicherweise
im Nervensystem eingeschliffene pathologische Erregungsschleifen wieder
lockern. Prophylaktisch gilt es zu verhindern, dass die
„Umschlaggrenze“ (von normalen Anpassungsbestrebungen zur
anhaltenden depressiven Störung) erreicht und überschritten wird. Mögliche
Hilfen sind der Erwerb von Flexibilität (Fähigkeit, Alternativen zu
entwickeln) bzw. das Erlernen von Copingstrategien/sozialer Kompetenz,
Entlastungen durch andere und die Verringerung von Faktoren, die das
Erreichen der Umschlaggrenze beschleunigen (z.B. berufliche Überlastung,
depressiogene Medikamente).
Modifiziert
nach: S. B. Patten: Depressive symptoms and disorders, levels of
functioning and psychosocial stress: an integrative hypothesis. Medical
Hypothesis 1999 (53) 210-216; R. Nesse: Is depression an adaptation?
Arch. Gen. Psychiatry 2000 (57) 14-20 |